Kinder, die Kinder haben

Minderjährige Mütter: Fakten, Versäumnisse, Maßnahmen

Dr. Peer Gebauer mit Adriana Radu Foto: Șerban Căpățână

Mit der größten Anzahl minderjähriger Mütter unter dem 15. Lebensjahr  und einem Drittel aller Geburten von Minderjährigen liegt Rumänien seit über einem Jahrzehnt im absoluten EU-Top. Allerdings liegt der Anteil der Geburten von Minderjährigen mit rund 10 Prozent unter dem weltweiten Durchschnitt von rund 13,5 Prozent. Trotzdem scheinen Gesetzesgeber, Bildungseinheiten und Betreuer vom Phänomen gleichermaßen überrumpelt zu sein. Gründe gibt es viele: Geldmangel, Inkompetenz, Versäumnis der Gesetzgeber oder die negative Haltung der Rumänischen Orthodoxen Kirche, wenn es um Aufklärung geht...

Fakt ist, dass die Anzahl der minderjährigen Mütter unter 15 Jahren 2022 in Rumänien auf 45 Prozent aller EU-Fälle gestiegen ist. Dass auch weiterhin rund 80 Prozent aller Kinder, die in den Notaufnahmestellen der Kinderschutzbehörde landen, Mädchen im Alter zwischen 13 und 15 Jahren sind, die eine Form von sexueller Gewalt oder Missbrauch erlebt haben. 

Besorgniserregend ist aber auch, dass das Durchschnittalter der minderjährigen Mütter in Rumänien im Jahr 2021  um rund zwei Jahre auf 15,4 Jahre gefallen ist (laut neuerlich veröffentlichten Daten des rumänischen Statistikinstituts INS) und die Anzahl junger Mütter zwischen 10 und 15 Jahren im letzten Jahrzehnt konstant bei rund 760-780 Fällen geblieben ist – auch wenn die Gesamtanzahl der minderjährigen Mütter von 15.586 im Jahr 2011 auf 7120 im Jahr 2022 gefallen ist. 

„Schwarzes Schaf“ oder Sündenbock

Der erste Facebook-Kommentar zu den Daten des INS forderte eine gesonderte Aufstellung für die Roma-Gemeinde als „Schuldige“ für die hohe Anzahl minderjähriger Mütter. Doch sind Aufschlüsselungen nach Ethnie auf Grund von Datenschutzregelungen nicht verfügbar. Der PoliticScan-Journalist Andrei Tiut schätzt jedoch auf Grund der Daten der Volksabstimmung aus dem Jahr 2010 die Anzahl der minderjährigen Mütter in der Roma-Gemeinde auf 18 Prozent. 

Auch Soziologe Gelu Duminică, zitiert von EuropaFM, hat 2021 darauf hingewiesen, dass 12 Prozent der minderjährigen Roma-Mädchen erklärt hätten, bereits mindestens ein Kind zu haben. 

Armut und Teenie-Mütter

Meist stammen Teenie-Mütter aus armen Verhältnissen. Auch ist die Anzahl minderjähriger Mütter auf dem Land drei Mal höher als in der Stadt, so Tiut. 

Das Durchschnittseinkommen der Familien, aus denen diese stammen, liegt bei 1160 Lei, wobei rund 50 Prozent der Familien ein Einkommen unter 1000 Lei haben und nur 12 Prozent über 2000 Lei. 68 Prozent von ihnen leben in einer Wohnung mit höchstens zwei Zimmern, die im Durchschnitt von 5,4 Personen bewohnt werden. 84 Prozent der Haushalte haben das Klo im Hof, 58 Prozent keinen Wasseranschluss und 96 Prozent heizen mit Holz, besagen Daten der NGO „Salvați copiii“.

Was das durchschnittliche Alter der Väter angeht liegt dieses knapp über 20 Jahre, wobei die Vaterschaft größtenteils negiert und die Mutter alleine gelassen wird.

Im Jahr 2022 stammten die meisten minderjährigen Mütter aus den Kreisen Mure{, Bihor, Kronstadt/Bra{ov und Dolj, mit jeweils über 300 Fällen, wobei die geringste Anzahl (57 Fälle) im Kreis Gorj registriert wurde. Die 151 in der Region Bukarest-Ilfov regis-trierten Fälle platzieren die Hauptstadt, in Anbetracht der Bevölkerungsdichte, eher im unteren Teil der Liste. 

Acht von zehn minderjährigen Müttern gehen nicht mehr zur Schule, so UNICEF. Zwei von zehn haben mehr als ein Kind (wobei im Jahr 2019 der Rekord mit 6 Kinder gesetzt wurde) und ein Drittel erklärte, dass ihre Mütter ebenfalls minderjährig waren, als sie geboren wurden. 85 Prozent der minderjährigen Schwangeren verlassen die Schulbank noch vor dem Entbinden, 75 Prozent in der Oberschule, zehn Prozent sind niemals zur Schule gegangen. 

Aufklärung…

...erfuhren rund ein Drittel der Teenie-Mütter zuhause, laut Daten von „Salvați copiii“ – und rund drei Viertel der Mädchen (laut UNICEF-Studie) haben wenigs-tens ein Familienmitglied oder eine enge Bekannte, die minderjährig schwanger wurde. Nur 41 Prozent der schwangeren Mädchen haben Informationen zur sexuellen Aufklärung erhalten und nur 23 Prozent zur Familienplanung, besagt die Umfrage. 

Somit setzen Teens des öfteren auf ungeprüfte Quellen, Social Media Influencer oder Erwachsenenwebsites als Quellen im Bereich Sexualität.

Medizinische Versorgung…

… beim Hausarzt suchen nur vier von zehn minderjährigen Müttern während der Schwangerschaft, 33 Prozent beim Facharzt, wobei es in 53 Prozent der rumänischen Gemeinden überhaupt keinen Hausarzt gibt (laut Daten der Föderation der Hausärzte Rumäniens) ganz zu schweigen von einem Facharzt. 90 Prozent der Mädchen haben für „Salvați copiii“ erklärt, dass sie für einen Arztbesuch in eine andere Ortschaft gehen müssen. Somit kommen die meisten Teens erst vor der Geburt oder eben bei Komplikationen zum Arzt. 80 Prozent der Mädchen meinen, keine Kenntnis von Verhütungsmitteln gehabt zu haben. Und auch wenn fast 90 Prozent der Mädchen bei einem Hausarzt eingeschrieben sind, beantragen nur rund zwei Prozent davon die Unterstützung der Kinderschutzbehörde.

Die weiteren Gefahren...

...beziehen sich sowohl auf die physische und psychische Gesundheit und das zukünftige Leben von Mutter und Kind: Depressionen, Ängste, Frühgeburten und eine erhöhte Kindersterblichkeit (die höchste Europas). Schulabbruch ist mit über 80 Prozent die Regel.

Der Mangel an sexueller Aufklärung ist Hauptgrund der gewaltigen Inzidenz an HIV-Fällen in den Reihen der Minderjährigen, die sich in den letzten Jahren vervielfacht haben.

Das Hauptproblem aber ist  die „Aufrechterhaltung eines Teufelskreises“ aus Armut und sozialer Exklusion, erklärte Dr. Diana P²un, Beraterin von Präsident Klaus Johannis zu Gesundheitsfragen. Ebenso der limitierte Zugang zu Gesundheitsleistungen und die geringe Anzahl Landärzte sowie der mangelnde Zugang zu Informationen zur sexuellen Aufklärung und Familienplanung, ganz im Einklang mit den Schlussfolgerungen einer UNICEF-Studie in Zusammenarbeit mit dem SAMAS-Verband (Gesundheit für junge Mütter) sowie sonstigen Studien. Hinzu kommt, dass Eltern oftmals abwesend sind, im Ausland arbeiten oder ihren Kindern sexuelle Aufklärung aus Mangel an eigener Kenntnis, Interesse oder aus religiösen Gründen verwehren.

Opfer behandeln – oder Gesellschaft erziehen?

Ohne konkrete Maßnahmen sowohl für Jugendliche als auch deren Eltern seien diese jungen Leute „dem schulischen Misserfolg“ und in weiterer Folge der Armut ausgeliefert, so der UNICEF-Bericht. Nicht selten werden sie Opfer von Misshandlungen oder sexueller Gewalt, laufen von zuhause weg, landen auf der Straße oder werden Opfer des Menschenhandels. Über 55 Prozent der Opfer von Menschenhandel waren 2021 minderjährige Mädchen, wobei ein noch höherer Prozentsatz der Opfer keine schulische Bildung hatte, so die Daten der rumänischen Behörde zur Bekämpfung von Menschenhandel.

Dies betrifft vor allem die Mehrheit der Teenie-Mütter in „ländlichen und sehr abgelegenen Gegenden“, wo es wenig Sozialarbeiter gibt, erklärte M²d²lina Turza, seinerzeit Staatssekretärin und Vorsitzende der Behörde für die Rechte von Behinderten, Kinder und Adoption (ANDPDCA).  

Der Soziologe Duminică beschuldigte den Staat sogar an „Komplizität“ an diesem Phänomen, zumal dieser seit Jahren die Warnzeichen wahrnimmt, jedoch nicht oder nur mangelhaft agiert.


Erstes Handbuch zur sexuellen Aufklärung

Erstmalig hat 2023 die NGO „Sexul vs barza“ in einer Zusammenarbeit mit der Kinderschutzbehörde Buz²u ein Handbuch für Sozialhelfer entwickelt, welches standardisierte und den heutigen Jugendlichen angepasste Methoden zur sexuellen Aufklärung bietet. „Die ältere Generation der Eltern in Rumänien, die es sehr gut meint, verfügt eben nicht über geeignete Werkzeuge, um die sexuelle Aufklärung ihrer Kinder zu gewährleisten. Dasselbe trifft auch auf das rumänische Kinderschutzsystem zu“, erklärte NGO-Leiterin Adriana Radu. „Das Projekt wurde allerdings sehr, sehr gut von den Mitarbeitern der Kinderschutzzentren aufgenommen. Wir haben bereits schriftliche Zusagen von fünf weiteren Kinderschutzämtern erhalten, die an unserem Training teilnehmen und mit den Handbüchern arbeiten möchten.“­


Die Deutsche Botschaft als Unterstützer

„Für uns ist es wichtig auszumachen, dass sexuelle Ausbeutung, Menschenhandel große Probleme sind für Rumänien, für Deutschland und für ganz Europa. Wir müssen diese Bedrohungen, diese Risiken entschlossen angehen. Dazu gehört nicht nur die Strafverfolgung der Täter, sondern auch, dass wir besonders die Opfer in den Blick nehmen, diesen Opfern Schutz und Unterstützung gewähren, sie aber auch stärken und resilienter machen. Und der Schlüssel für Resilienz ist Wissen, ist die Fähigkeit, selbst über die Risiken Bescheid zu wissen und Maßnahmen dagegen ergreifen zu können“, erklärte der deutsche Botschafter in Bukarest, Dr. Peer Gebauer, auf dem Event der deutschen Botschaft zur Vorstellung des mit Unterstützung der deutschen Botschaft herausgegebenen „Handbuchs für sexuelle Aufklärung“ im Februar.
„Wenn es um solche Themen wie sexuelle Ausbeutung oder Menschenhandel geht, dann haben wir alle das Phänomen in unseren Gesellschaften, dass viele Leute eher wegschauen oder sich nicht darum kümmern. Es sind Themen, die sich im Schatten abspielen, die nicht besonders erfreulich sind, nicht besonders appetitlich. Deswegen neigen unsere Gesellschaften dazu, sie ein bisschen ausblenden zu wollen. Aber umso wichtiger ist es, mit Veranstaltungen und Kooperationsformaten wie dieses hier den Fokus auf dieses Thema zu richten, denn das Risiko, dass junge Menschen und natürlich vor allem Mädchen Opfer von Gewalt, von sexueller Ausbeutung werden ist einfach da. Für jeden, der selbst Kinder hat, wird klar wie wichtig es ist, dass wir hier die Opfer schützen und die Resilienz stärken müssen. Das Thema wird leider nicht verschwinden, das müssen wir uns bewusst machen. Und umso wichtiger ist es, daran zu arbeiten.“